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Steigende Zinsen – Chancen, Risiken und Nebenwirkungen für die Lebensversicherungsbranche (Teil 2)

Mehr Performance-Chancen und weniger Risiken bei klassischen Produkten?

Wenn die Lebensversicherungsbranche unter der Niedrigzinsphase gelitten hat, dann sollte man doch erwarten, dass es jetzt mit steigenden Zinsen wieder aufwärtsgeht. Die Performance der klassischen Produkte sollte steigen und im Gegenzug müssten die mit diesen Produkten verbundenen Risiken für den Lebensversicherer sinken. Doch so einfach ist es nicht.

Die sinkenden Marktzinsen haben die Performance-Chancen klassischer Produkte doppelt belastet: Zum einen sanken die Erträge aus der Kapitalanlage, zum anderen verringerten sich die Gewinne der Lebensversicherer, weil ein Teil der Gewinne zum Aufbau der Zinszusatzreserve verwendet wurde. So ist es nicht verwunderlich, dass die laufende Überschussbeteiligung – sie stellt das Maß für die Performance der klassischen Produkte dar – in den letzten Jahren kontinuierlich gesunken ist.


Grafik 1: Entwicklung der laufenden Überschussbeteiligung in der
Lebensversicherung in Deutschland (private Rente im Neugeschäft) im Vergleich zum Marktzins1

Warum war das so? Ein wichtiger Treiber für die Überschussbeteiligung bei einer klassischen Kapital- oder auch Rentenversicherung ist die Kapitalanlage. Die Kapitalanlage eines Lebensversicherers, das sogenannte konventionelle Sicherungsvermögen („Deckungsstock“), besteht zu einem sehr hohen Anteil aus Anleihen. Branchenweit liegt dieser Anteil bei rund 80 %.2 Der hohe Anteil an Anleihen hat sich über die letzten Jahre nicht wesentlich verändert.

Lange Zeit lag die laufende Überschussbeteiligung über dem Marktzins. Das hat sich gerade geändert.

Die Bestandskunden und vor allem die im Laufe der Jahre neu hinzugekommenen Bestandskunden haben von den noch in der Hochzinsphase erworbenen Kapitalanlagen profitiert. Diese Anleihen zahlten trotz niedriger Marktzinsen weiterhin ihre hohen Kupons aus. Mit fortschreitendem Zinsrückgang waren die Lebensversicherer jedoch gezwungen, zunehmend Anleihen mit deutlich niedrigeren Kuponzahlungen zu kaufen. Dies führte in der Gesamtbetrachtung zu einer geringeren Rendite des konventionellen Sicherungsvermögens.

Der starke Anstieg des Marktzinses hat die Situation der Vergangenheit nun umgekehrt. Der Marktzins liegt höher als die laufende Überschussbeteiligung (siehe Grafik 1). Dies wird gravierende Auswirkungen auf das klassische Neugeschäft haben. Alternativen bei der Geldanlage sind nun deutlich attraktiver geworden: zum Beispiel Tagesgeld, Festgeld und strukturierte Produkte.

Beim 1-jährigen Festgeld gibt es derzeit über 4 % Zinsen pro Jahr.

Der mit dem Zinsanstieg einhergehende Abbau der Zinszusatzreserve erhöht den Gewinn des Lebensversicherers. Dieser Gewinn wird anteilig in Form der Überschussbeteiligung an die Kunden weitergegeben. Zwar zeichnet sich dadurch branchenweit eine Erhöhung der Überschussbeteiligung im klassischen Geschäft ab, es ist jedoch davon auszugehen, dass die laufende Überschussbeteiligung zunächst hinter dem Marktzins zurückbleiben wird.

Entscheidend für das klassische Neugeschäft eines Lebensversicherers wird daher sein, wie lange und wie deutlich seine Überschussbeteiligung unter dem Marktzins liegen wird.

Zu betrachten sind aber auch noch die Risiken, die sich für einen Lebensversicherer aus dem klassischen Geschäft ergeben. Im Jahr 2016 wurde Solvency II eingeführt, um diese Risiken besser messen zu können.

In meinem früheren Klartext-Artikel zu Solvency II erfahren Sie mehr zu Solvency II und den Hürden und Schwierigkeiten bei der Interpretation und dem Vergleich der Quoten verschiedener Unternehmen.

Ein Blick auf die Entwicklung der Solvenzquoten über die letzten Jahre zeigt: Im Branchendurchschnitt haben sie sich durch den Zinsanstieg deutlich verbessert. Ende 2022 liegt die durchschnittliche Solvenzquote mit rund 600 % um gut 200 Prozentpunkte höher als im Jahr 2020.  


Grafik 2: Entwicklung der Solvenzquoten in der Lebensversicherung in Deutschland3

Beim Blick auf die Solvenzquote könnte der Eindruck entstehen, dass mit den steigenden Marktzinsen wieder alles in Butter ist.

Doch Vorsicht! Wie steht es um die Liquidität der Lebensversicherer? Können sie ihren Verpflichtungen, zum Beispiel der Auszahlung des Guthabens bei Kündigung oder auslaufendem Vertrag, nachkommen? Liquidität ist kein theoretisches Problem, wie der aktuelle Fall des Lebensversicherers Eurovita in Italien zeigt.

Der Fall Eurovita4: Eurovita ist ein mittelgroßer Lebensversicherer in Italien. Verschiedene Banken haben Policen des Versicherers vertrieben. Mit den steigenden Marktzinsen haben viele Kunden beschlossen, ihre Policen zu kündigen, um das Geld besser anzulegen. Der starke Mittelabfluss beunruhigte die italienische Versicherungsaufsicht. Sie zog im Februar 2023 sogar die Notbremse und untersagte alle Auszahlungen an die Kunden. Eurovita soll nun nach dem Willen der Aufsicht aufgelöst und unter den 5 größten italienischen Lebensversicherern aufgeteilt werden.

Der Marktzins übt also auch aus einer ganz anderen Richtung Druck auf die Lebensversicherer aus. Was das genau mit Storno, Inflation und letztlich mit den stillen Lasten und der Überschussbeteiligung zu tun hat, erfahren Sie im nächsten Teil.

Weiter zum dritten Teil.

Quellen und Anmerkungen

1: Quellen: Marktstudie zu Überschussbeteiligung und Garantien 2022 (Assekurata) und https://www.assekurata-rating.de/2023/02/23/assekurata-marktstudie-zu-ueberschussbeteiligungen-und-garantien-2023/. Als Referenz für den Marktzins verwenden wir, wie im 1. Teil, die Umlaufrendite der Deutschen Bundesbank. Die Zeitreihe zum Marktzins kann über die Webseite der Bundesbank heruntergeladen werden: https://www.bundesbank.de.

2: Diese Angabe wurde der Webseite des GDV (https://www.gdv.de/gdv/medien/zahlen-und-daten/beitragseinnahmen-kostenquoten-vertraege-stornoquoten-und-kapitalanlage) entnommen.

3: Quelle: Als Solvenzquote wurde die für die Versicherungsaufsicht BaFin relevante Quote herangezogen. Darin berücksichtigt sind, je nach Unternehmen, etwaige Übergangsmaßnahmen sowie Volatilitätsanpassungen. Die Zahlenwerte stammen von Policendirekt (bis zum Jahr 2021, www.policendirekt.de) sowie SolvencyData (Jahr 2022, www.solvencydata.com).

4: Entnommen aus dem Artikel „Italienisches Beben mit Fernwirkung“ der Süddeutschen Zeitung (https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/lebensversicherung-abwicklung-cinven-eurovita-viridium-zurich-lebensversicherung-1.6012632).