Deutsch / Opinion

Steigende Zinsen – Chancen, Risiken und Nebenwirkungen für die Lebensversicherungsbranche (Teil 1)

Die deutschen Lebensversicherer haben unter der sehr langen Marktphase sinkender Zinsen und zuletzt vor allem unter Zinsen im Negativbereich sehr gelitten und viel gestöhnt. Die seit einem Jahr wieder steigenden Zinsen müssten den Lebensversicherern daher sichtlich guttun.

Was hat der Marktzins mit der Lebensversicherung zu tun?

Dazu ein kurzer Blick auf die Kalkulation. Bei der Berechnung der Prämie einer Lebensversicherung kommt das so genannte Äquivalenzprinzip zur Anwendung. Dieses Prinzip besagt, dass die Leistungen des Versicherers, zum Beispiel eine Todesfallleistung oder eine Kapitalleistung bei Ablauf, den Beiträgen des Kunden entsprechen müssen.

Diese «Gleichheit von Leistung und Gegenleistung» führt dazu, dass der Lebensversicherer den Barwert seiner zukünftigen Versicherungsleistungen mit dem Barwert der zukünftigen Prämien gleichsetzt. Bei der Kalkulation in der Lebensversicherung spielt also der Barwert eine wichtige Rolle.

Ein Barwert ist der Gegenwartswert einer künftigen Leistung. Diese zukünftige Leistung wird mit einem angemessenen Zinssatz (Diskontierungssatz) auf den heutigen Zeitpunkt abgezinst. Der Barwert steht damit für den Zeitwert von Geld. Ein Euro, den ich in der Zukunft erhalte, ist weniger wert als ein Euro, den ich bereits heute besitze. Beispiel: Bei einem Zinssatz von 3 % (p.a.) beträgt der Barwert von 100 Euro, die ich erst in einem Jahr erhalte, rund 97 Euro. Die 100 Euro, die ich in einem Jahr erhalte, haben für mich heute einen Geldwert von rund 97 Euro. Bei einem Zinssatz von 6 % (p.a.) würde der aktuelle Geldwert sogar nur rund 94 Euro betragen. Je niedriger der Diskontierungssatz ist, desto höher ist also der Barwert.

In der Lebensversicherung wird als Diskontierungssatz für die Berechnung des Barwerts der Rechnungszins verwendet. Der Rechnungszins wird durch den Lebensversicherer garantiert. Er geht damit eine Verpflichtung gegenüber dem Kunden ein, zum Teil über viele Jahrzehnte. Der Rechnungszins ist daher vorsichtig festzulegen. Der maximal zulässige Rechnungszins, der sogenannte Höchstrechnungszins, wird vom Bundesministerium der Finanzen festgelegt. Seit Januar 2021 beträgt er 0,25 % (p.a.).

Experten wie die Deutsche Aktuarvereinigung geben auf Basis eigener Berechnungen Empfehlungen zur Festlegung des Höchstrechnungszinses ab. Ende letzten Jahres empfahlen die deutschen Aktuare, den Rechnungszins trotz steigender Zinsen auch im Jahr 2024 bei 0,25 % (p.a.) zu belassen.1

Der Rechnungszins sollte sich grundsätzlich am Marktzins orientieren. Den einen Marktzins gibt es jedoch nicht. So variieren zum Beispiel die Zinssätze für Spareinlagen für Privatkunden mit der Laufzeit2:

  • Festgeld für 1 Jahr: bis zu 4,15 % (p.a.)
  • Festgeld für 2 Jahre: bis zu 4,20 % (p.a.)
  • Festgeld für 5 Jahre: bis zu 4,35 % (p.a.)

Für den Rechnungszins in der Lebensversicherung ist es sinnvoll, wenn bei dessen Festlegung sich an demjenigen Zins orientiert wird, den ein Lebensversicherer in Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit für seine neu abgeschlossenen Verpflichtungen erwirtschaften kann. Das Anlageportfolio eines Lebensversicherers wird vermutlich aus einer eher konservativen Kapitalanlagestrategie mit einem hohen Anleihen-Anteil bestehen und sich zudem von Lebensversicherer zu Lebensversicherer unterscheiden. Der Einfachheit halber verwende ich im Folgenden die Umlaufrendite3 der Deutschen Bundesbank als Referenz für den Marktzins.

Grafik 1: Marktzins vs. Höchstrechnungszins in der Lebensversicherung

Die Grafik zeigt, dass die Marktzinsen in den letzten Jahrzehnten gesunken sind. Wir sehen in der Grafik auch, dass der Höchstrechnungszins bisher der Entwicklung des Referenzzinssatzes mit einer gewissen Verzögerung gefolgt ist.

Sinkt der Rechnungszins im Neugeschäft, steigt der Barwert der Versicherungsleistungen und aufgrund des Äquivalenzprinzips auch der Barwert der Beiträge des Kunden.

Durch den sinkenden Rechnungszins sind in den letzten Jahren die Beiträge beispielsweise für eine Berufsunfähigkeitsversicherung allein aufgrund der Absenkung des Rechnungszinses gestiegen, ohne dass sich sonst etwas am Lebensversicherungsprodukt geändert hat.

Umgekehrt sind bei Kapitalversicherungen aus dem gleichen Grund die garantierten Ablaufleistungen bei gleichem Beitrag gesunken.

Die sinkenden Marktzinsen wirkten sich jedoch nicht nur auf die Konditionen im Neugeschäft aus, sondern hatten auch einen Effekt auf den Bestand. In der Grafik oben sehen wir, dass der Marktzins in der Niedrigzinsphase viele Jahre deutlich unterhalb der hohen Rechnungszinsen lag. Aus diesem Grund sind die deutschen Lebensversicherer seit dem Jahr 2011 dazu verpflichtet eine zusätzliche Reserve, die Zinszusatzreserve, zu bilden. Die Zinszusatzreserve soll sicherstellen, dass die Versicherungsunternehmen ausreichende finanzielle Rücklagen haben, um ihre langfristigen Verpflichtungen gegenüber den Versicherungsnehmern erfüllen zu können.

Der Aufbau der Zinszusatzreserve wurde aus den Überschüssen der Lebensversicherer finanziert. Dies hatte, genau wie auch die Niedrigzinsphase an sich, negative Auswirkungen auf die Überschussbeteiligung. Der Aufwand für den Aufbau der Zinszusatzreserve vermindert den Gewinn des Lebensversicherers und damit die Überschussbeteiligung für seine Kunden.

Die niedrigen Marktzinsen haben bei den deutschen Lebensversicherern gleich an mehreren Ecken deutliche Spuren hinterlassen: höhere Beiträge, höhere Rückstellungen, niedrigere Garantien und sinkende Überschussbeteiligung.

Seit etwa einem Jahr steigen die Marktzinsen nun wieder. Wir sehen attraktive Konditionen bei Tages- und Festgeld. Neuemissionen von Anleihen locken mit höheren Kupons. Und auch die strukturierten Produkte der Investmentbanken bieten wieder attraktive Rendite-Risiko-Profile für den Endkunden.

Wie reagiert die Lebensversicherungsbranche? Was bedeuten steigende Marktzinsen für das Neu- sowie das Bestandsgeschäft? Profitieren die Lebensversicherer von der Zinswende? Und damit letztlich auch die Kunden?

In den kommenden Beiträgen unserer Serie zu #SteigendenZinsen werden wir unter anderem folgende Fragen klären:

  • Werden klassische LV-Produkte für den Endkunden wieder attraktiver?
  • Bedeuten steigende Zinsen weniger Risiken für die Lebensversicherer?
  • Wie schlagen sich Klassik-Alternativen im aktuellen Marktumfeld?

Weiter zum zweiten Teil.

Anmerkungen und Quellen

1: AssCompact (Artikel vom 5. Dezember 2022): https://www.asscompact.de/nachrichten/dav-f%C3%BCr-beibehaltung-des-h%C3%B6chstrechnungszinses-von-025

2: Weltsparen (Daten vom 6. Juli 2023): https://www.weltsparen.de/festgeld/

3: Umlaufrendite der Deutschen Bundesbank: https://www.bundesbank.de/dynamic/action/de/statistiken/zeitreihen-datenbanken/zeitreihen-datenbank/759778/759778?listId=www_skms_it01