Deutsch / Opinion

Steigende Zinsen – Chancen, Risiken und Nebenwirkungen für die Lebensversicherungsbranche (Teil 4)

Alternativen zur Klassik bieten große Marktchancen

Durch die toxische Mischung aus hoher Inflation und steigenden Zinsen nimmt der Wettbewerb bei Bank- und Finanzprodukten derzeit enorm zu. Dies macht sich bereits im Neugeschäft der Lebensversicherer bemerkbar. Nach einem branchenweiten Prämienrückgang im Jahr 2022 ist auch im laufenden Jahr mit einem Rückgang zu rechnen.

Wir stehen vermutlich aus mehreren Gründen vor einer Zeitenwende in der Produktentwicklung der Lebensversicherung. Seit der Deregulierung (1994) wurde die Produktlandschaft in der Lebensversicherung maßgeblich durch das Kapitalmarktumfeld geprägt. Zweifellos haben zum Beispiel auch der Vertrieb und die staatliche Regulierung Impulse gegeben, aber der Aktien- und Zinsmarkt war stets eine treibende Kraft.

So lassen sich in den letzten rund 30 Jahren verschiedene Produktzyklen erkennen, in denen neu entwickelte Produktkategorien auftauchten, die dann auch tatsächlich danach im Neugeschäft dominierten.

Neue Produkte im Kontext von Aktien- und Zinsmarkt1

Bei den neuen Produkten sind beispielsweise die Fondsgebundene Lebensversicherung (FLV), das Hybrid-Produkt und auch das Select-Produkt zu nennen.

Die gute Nachricht: Steigende Zinsen machen alternative Produktgestaltungen im Neugeschäft wieder attraktiv. Dabei könnten auch in Vergessenheit geratene Produktlösungen wieder aus der Schublade geholt werden.

Zur Gruppe der „vergessenen“ Produkte gehören zum einen die echten Indexpolicen. In den 90er Jahren und bis in das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends wurden genau diese echten Indexpolicen als Alternative zu Klassik und FLV im Neugeschäft angeboten. Diese Indexpolicen dürfen jedoch nicht mit den Select-Produkten verwechselt werden. Im Gegensatz zu den Select-Produkten sind die echten Indexpolicen zu 100 % nicht klassisch investiert.

Zum anderen gehören auch Garantiefonds, zum Beispiel auf Basis eines CPPI-Konzepts, zur Gruppe der „vergessenen“ Produkte. Diese Garantiefonds können einfach in eine FLV eingebunden werden. Dank der aktuell hohen Marktzinsen sind innerhalb eines Garantiefonds wieder hohe Aktienquoten von bis zu 100 % möglich, trotz der zugesagten Garantie bei dessen Ablauf. In den kommenden Monaten könnte auch das gute alte CPPI-Konzept eine Renaissance erleben.

In der Ansparphase lassen sich Garantie und Sicherheit dank attraktiver Verzinsung wieder gut mit Performance-Chancen kombinieren. Gerade bei kurzen Laufzeiten und Einmalbeiträgen ist dies ideal. Aber auch im Rentenbezug können steigende Marktzinsen direkt genutzt werden. Bei kapitalmarktnahen Rentenversicherungen, insbesondere bei Sofortrenten, kann ein höherer Rentenfaktor angewendet werden und durch die Anlageorientierung im Rentenbezug sind zudem höhere Rentensteigerungen möglich.

Die Gretchenfrage lautet: Können Lebensversicherer diese
Klassik-Alternativen überhaupt entwickeln und einsetzen?

Bei den üblichen Entwicklungszeiten für neue Produkte von deutlich mehr als einem Jahr werden wir bei den meisten Lebensversicherern noch einige Zeit auf neue Produkte warten müssen. Die Lebensversicherer haben es in den letzten Jahren versäumt, die Produktentwicklung zu beschleunigen. Auch nach mehr als einem Jahr steigender Zinsen fehlt es bei den meisten noch an konkurrenzfähigen Angeboten im Einmalprämien- und kurzfristigen Anlagebereich.

Der Grund für das zögerliche Vorgehen der Lebensversicherer bei neuen Produkten könnte aber auch eine gewisse Zwickmühle sein.

Die meisten Lebensversicherer können es sich kaum leisten, einfach von heute auf morgen komplett aus der Klassik und ihren Varianten auszusteigen. Eine schnelle Abkehr von der Klassik könnte den im vorherigen Teil geschilderten Druck auf den Bestand noch weiter erhöhen. Es sei denn, der Bestand wird ohnehin verkauft oder geht in den Run-off. Auch die Neugründung könnte für einen Lebensversicherer zu einer Option werden. Tatsächlich ist es ein offenes Geheimnis, dass der eine oder andere Lebensversicherer bereits Pläne für eine Neugründung in der Schublade hat.

Sind die Lebensversicherer „Gefangene im eigenen System“?

Andererseits kann es sich ein Lebensversicherer auch nicht leisten, im Neugeschäft nicht auf alternative Produkte zu setzen. Das ist ein Dilemma. Und dieses Dilemma könnte sich noch weiter verschärfen. Geht es nach der Fokusgruppe private Altersvorsorge, soll bei der steuerlichen Förderung der einfache ETF-Spar- und Auszahlplan mit einer Rentenversicherung gleichgestellt werden. Damit kommt die Welt der Lebensversicherer aus dem Gleichgewicht, weil der vertrieblich stark genutzte Steuervorteil einfach verloren geht.

Die rasant gestiegenen Marktzinsen sorgen dafür, dass wir am Beginn eines neuen Produktzyklus stehen. Und vielleicht sind es gerade die in Vergessenheit geratenen Produkte, die dem Neugeschäft neue Impulse geben werden. Entscheidend für den Erfolg im Neugeschäft wird immer mehr die Kreativität und Schnelligkeit der Produktentwicklung eines Lebensversicherers sein. Vielleicht wissen wir am Ende des Jahres schon mehr darüber, wie und vor allem in welche Richtung der ein oder andere Versicherer reagiert hat. Es bleibt spannend!

Mehr zur Zeitenwende bei Lebensversicherungsprodukten in einem früheren Klartext-Artikel.

Quellen

1: Der Aktienmarkt wird in der Grafik durch den Deutschen Aktienindex DAX® repräsentiert (Rohdaten via Yahoo Finance). Der Zinsmarkt wird durch die Umlaufrendite in Deutschland repräsentiert (Rohdaten via Deutsche Bundesbank).